oder: Kann jeder schreiben, der das Alphabet beherrscht?
„Jeder Mensch kann singen!“ Wenn das stimmt, dann kann jeder Mensch auch schreiben – sofern er das Alphabet gelernt hat. Hört sich einfach an, ist für viele aber nicht so. Ein im Kopf gedachtes Wort wird durch den Körper, über den Arm in die Hand transportiert und mithilfe eines Stiftes auf das Papier gesetzt ‑ ein langer Weg, und so mancher Satz, der ihn gegangen ist, um auf dem Blatt zu stehen, hört sich beim Lesen anders an als der Gedanke, den man ausdrücken wollte.
Und diese schriftliche Mitteilung hat eine andere Dimension als das gesprochene Wort. Geschriebenem haftet Ewigkeitscharakter an. Gesprochenes kann im Dialog verständlich gemacht werden, zurückgenommen und neu versucht werden. Was schriftlich niedergelegt ist, kennt allein das Gespräch mit seinem Erzeuger und dem Papier, nicht mit einem Gegenüber. Es ist raus aus dem Kopf und darf ein Eigenleben führen. Irgendwann fragt sich vielleicht der einstige Verfasser einmal: „War ich das?“
Beim Schreiben wird alles freigelassen, was Kopf und Herz bewegt, auf die Unterlage, auf den Notizblock und dann weggelegt oder zugeklappt. Wer seine Gedanken auf die Reise schickt über Hand und Arm in die Welt, entlastet sich. Das Chaos der Gedanken findet ein Ventil. So kann Schreiben eine heilende Kraft entfalten. Ein Mensch drückt mit seinem Körper, mit seiner Hand aus, was in ihm vorgeht. Das Herausgeflossene nimmt einen Platz auf dem Papier ein, wird zu etwas Anderem, unter Umständen Fremdem: ein Text, der seine Wirkung aus sich heraus erzielt. So wird Distanz möglich und ein neuer Blick auf das Eigene.
„Automatisches Schreiben“ nach den französischen Surrealisten und den Dadaisten
Der kreative Akt des Schreibens steht in engem Zusammenhang mit dem Unbewussten. Das „Automatische Schreiben“ nach den Dadaisten und den französischen Surrealisten (etwa André Breton, Paris 1920) stimuliert das Unbewusste als Methode: In einem bestimmten Zeitraum, vielleicht fünf Minuten, wird geschrieben, ohne den Stift abzusetzen und ohne bewusst nachzudenken. Alles, was kommt, wird notiert. Alles, was im Menschen Platz hat, bekommt Raum auf dem Papier. Im Prozess des Schaffens, also der Arbeit an der eigenen Person, findet eine Bewegung von der Oberfläche des Bewusstseins zum Unbewussten und zurück statt.
Wie der psychoanalytische Prozess kann das Schreiben über eine Phase der Destabilisierung zu einer Art Neuschöpfung führen. Nimmt man eine Kooperation von Unbewusstem und Bewusstem an, macht das Schreiben verdrängte Inhalte verfügbar, die aus der mit dem Schreiben gewonnenen Distanz mit größerer Objektivität betrachtet werden. Es kommt zu einer Osmose zwischen Bewusstem und Unbewusstem, wodurch im gelungenen Fall am Ende des Prozesses ein anderes, eventuell poetisches Selbst hervortreten kann.
Gemeinsames Schreiben
Schon in der Barockzeit fanden das Spiel mit der Sprache und die Selbstheilung durch Schreiben statt. Leichter und müheloser Umgang mit Sprache war Zeichen von hoher Bildung. Für Menschen, die Freude am Schreiben bereits haben oder noch suchen, gibt es heute Gruppen; oder es werden für sie etwa Schreibnächte organisiert, wo sie unter fachkundiger Anleitung ihr Potential entdecken können. Der folgende Text stammt von Maria Aurora (1662-1728), der Schlossherrin von Agathenburg bei Stade, die sich mit Frauen ihres Standes oder Höherstehenden, wie der schwedischen Königin, in Zirkeln mit dem Dichten religiöser Kunst befasste:
“und je höher diese Sonne
in unserem Hertzen auffgeht
je tunkler wird der Weltstern mit seiner falschen scheinlichen Klarheit:
je süsser Gott der Seelen wird
je bitterer wird ihr die Welt.”
(aus:“Nordischer weyrauch oder Zusammen Gesuchte andachten Von Schwedischen Frauen Zimmern”.)
Gerade dieser heute fremde Text ermöglicht einen freien Gedankenflug. In einer Gruppe kann man ihn in einem barocken Umfeld lesen, etwa in Schloss Agathenburg selbst. Teilnehmer können das Gedicht in der alten Sprache weiterschreiben oder neu in heutiger Sprache verfassen; sie können ein Gegengedicht komponieren und vieles mehr. Eine solche Auseinandersetzung mit Schrift arbeitet im Menschen. Sie kann Folgendes bewirken:
- Wir können Worte für eventuell Unaussprechliches finden. Schreiben, mit dem Übung einhergeht, verändert unsere Sprach- und Ausdruckskompetenz, es bereichert den Sprachschatz und die Ausdrucksvielfalt.
- Versprachlichung führt von einer routinierten Wahrnehmung zu einem neuen, erweiterten Blick.
- Poetisch verdichtete Sprache kann Menschen emotional berühren und zu einer Erweiterung des Erlebens führen.
- Am Leben hindernde Blockaden können erkannt und gelöst werden.
- Schreiben bewirkt Ordnung. Es kann dazu beitragen, dass sich Gedanken, Gefühle und Ideen ordnen und formen, sodass eine eventuell verwirrende Vielfalt von Gedanken Struktur annimmt und Widersprechendes sich durch den Prozess des Schreibens zu einem Ganzen verbindet.
- Schreiben kann dem Weg zur Sinnfindung im Leben dienen. Gedanken können sich im Schreiben verdichten. Erst so ergeben sie für den Schreibenden manchmal einen Sinn und zeigen ihm eine Richtung, in die er weiter gehen kann, auf einem Weg der Selbsterkenntnis und des inneren Wachstums.
- Wie der Mensch selbst, ist die Sprache in einer stetigen Entwicklung, im Fluss und zeigt sich schöpferisch in neuen Wortformen und Schreibweisen.