Engelrufer sind zurzeit angesagte Schmuckstücke. Es sind Ketten mit kugel- oder flügelförmigen Anhängern, die auf unterschiedlichste Weise geformt und verziert sind. Die Werbung verheißt: Wenn man den Glauben an Engel verloren hat, kann man ihn durch das Schmuckstück wieder erlangen und der Engel findet dadurch auch wieder zum Menschen. Eine offensichtlich erfolgreiche Verkaufsstrategie für die Schmuckindustrie.
Wenn sich Engel gut vermarkten lassen, zeigt das mir, dass die Bedürfnisse der Menschen nach Heil-sein und Geborgenheit mithilfe der „Engel“, die in den Deko- und Schmuckbereichen auftauchen, bedient werden.
Die Vorstellung von Engeln gibt es auch außerhalb des Alten und Neuen Testaments, aber sie ist charakteristisch für die Bibel. Gott äußert sich in Menschen, die einem zu Engel werden, in Phänomenen, die als Zufall verkleidet daher kommen und in hilfreichen Gedanken, die uns anfliegen. Im Alten Testament sind es häufig Männer, die z.B. als Besucher zu Sara und Abraham kommen und ihnen verheißen, dass sie auf ihre alten Tage noch Eltern werden. Diese Botschaft entlockt Sara verständlicher Weise ein Lachen, das ihr bald vergeht, weil es in Freude übergeht und Staunen, denn die Verheißung trifft ein.
Elia, ein von Gott Beauftragter, war erschöpft von seinem Tagesgeschäft, in Gottes Diensten zu stehen, Gottes Prophet zu sein und unangenehme Wahrheiten verkünden zu müssen. Er zog sich in die Wüste zurück und wollte sterben. Alles war ihm über den Kopf gewachsen. Es schien keinen Trost mehr für ihn zu geben. Zu Elia kam ein Engel. Er hatte die Macht, ihm neue Energie zu geben: „Steh‘ auf, iss‘ und geh‘ deinen Weg weiter, tu‘ deine Arbeit.“ Keine leeren Worte, die einem Ausgelaugten sein Elend vor Augen führen und seine Unfähigkeit verstärken, sondern frischer Schwung und Lebenskraft wehen herüber.
Im Neuen Testament wird von einem Engel gesprochen, der der bis dahin unfruchtbaren Elisabeth die frohe Nachricht der Schwangerschaft bringt. Johannes, der Vorbote Jesu, soll geboren werden. Engel sind es, die die Geburt Jesu den Ärmsten der Armen, den Hirten, verkündigen, ihnen Mut machen, Gott im Unscheinbaren, im Kleinen zu erkennen. Und der Geflügelte ist es, der am Ende seines Lebens, am Grab anwesend ist. Er spricht den weinenden Frauen Mut zu, denn sie sollen sich nicht fürchten und Jesus nicht bei den Toten suchen.
Die unsichtbare Welt wird durch die geflügelten Wesen repräsentiert. Sie stehen immer an vorderster Front des Geschehens. Es gibt mehr als unsere Augen sehen und unser Verstand begreift. In reformatorischer Zeit war das Thema Engel umstritten. Martin Luther gibt dem Schutzengel Raum, wie er es in seinem Morgen- und Abendsegen zum Ausdruck bringt, für ihn sind sie vollmächtige Durchsetzer des Willen Gottes.
Die Erscheinungen der Boten Gottes haben die Besonderheit, dass sie mehrdeutig sind. Die einen verstehen nicht, was die Engel wollen, die anderen lachen und glauben nicht, was sie von ihnen hören, und wieder andere können mit der gebrachten Botschaft etwas anfangen. Mehrdeutig und individuell, nicht fassbar und doch persönlich, schillernd und reizvoll bewegen sie die Menschen bis heute.
Sind sie mehr als Fantasiephänomene? Nicht nachweisbar ist ihre Existenz, aber für viele spürbar, der Glaube an sie öffnet Horizonte. Mit der Denkweise und den Begriffen unserer Computerwelt, finde ich, kann man ihnen nahe kommen: Engel sind virtuelle Wesen. Nicht sichtbar und doch da. Wenn Kraft und Energie in einem Menschen freigesetzt werden und fließen, Unverständliches am Werk zu sein scheint, dann ist die Macht der Engel spürbar, auch wenn sie uns in eine Richtung schicken, die wir für uns nicht einschlagen wollten.
„Einer, der uns sehr schüchtern nach unserem Woher und Wohin fragt und uns sehr gegen unseren Willen dahin zurückschickt, wo wir eben davonlaufen wollen, kann ein Bote Gottes, ein Engel sein“ (Kierkegaard) Tröstend und transparent, schwebend und schützend, so wollen wir die Engel sehen. Kierkegaard, der dänische Theologe, der sich mit der Sinnfrage beschäftigte und der Zeit seines Lebens um den Sinn seines Dasein kämpfte, sieht sie als Wegweiser für einen Weg, den wir gar nicht gehen wollen, der aber trotzdem der richtige für uns sein kann. Diese Vorstellung korrespondiert für mich mit dem Engel des Propheten Elia. Aufgeben, sich seiner Erschöpfung ergeben kommt nicht in Frage, denn der Engel gibt ihm zu trinken und zu essen und fordert ihn auf, weiter zu machen und nicht davon zu laufen.
Was ist wohl für moderne Menschen das Faszinierende an ihnen, diesen scheinbar archaischen Relikten einer anderen Welt? Ist es der Glaube an die Existenz von Wesen personalen Charakters, die zu einer unsichtbaren Welt gehören? Ist es die Hoffnung, dass wir Hinweise erhalten können, die über unseren Verstand hinausgehen? Oder ist das Besondere, das von ihnen ausgeht, dass jeder und jede in ihnen das sehen kann, was er/sie will? Meine Wünsche und Visionen, aber auch meine Ängste und Befürchtungen haben Platz unter seinem luftigen „Geflügel“. Der Gedanke an sie kann entlasten, denn sie weisen darauf hin, dass nicht alles in unserer Hand liegt.
Und doch: Sie zeigen auf das „mehr“ in unserem Lebens. Sie erinnern an Gott in einer unaufdringlichen Weise. Engel, die geflügelten Boten Gottes kommen bis heute an! Sie erreichen die Menschen, sie berühren irgendwo ganz tief ihre Seelen. Und sie sind noch mehr: Sie sind ein Symbol für Geborgenheit und letztendliches Vertrauen in diese Welt und über diese Welt hinaus, dass am Ende alles gut ist.
Wie schön, dass Engel, die geflügelten Kräfte Gottes, bei den Menschen Hochkonjunktur haben! Denn durch den Verlust der Engelvorstellung würde die Dimension einer geistigen Welt, die das Christentum vom Materialismus etc. unterscheidet, beeinträchtigt werden, deshalb ist die säkulare Entdeckung der Engel eine Aufgabe für die Kirche, diesem Bereich Aufmerksamkeit zu schenken.
Sichtbares Symbol für Präsenz des Unsichtbaren kann der Bronzeengel sein, der mit seinen segnenden Händen an die Worte des Psalms 91 erinnert: „Er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.“ Bewahrt werden und behütet sein kann man spüren, wenn man ihn in die Hand nimmt.
Geflügelte Wesen sind Schutzengel, aber nicht nur das, sie bringen auch Botschaften und Aufträge zu uns. Das gute Gefühl, diesen Bronzeengel in Händen zu halten, weckt die Kraft des Menschen, auf das zu schauen, was für den heutigen Tag nötig und wichtig ist und wo es Menschen gibt, die mich und meine Hilfe brauchen.
Das Interesse an Engeln im kommerziellen Bereich wirft ein Licht auf einen besonderen Tag, der in der Regel bei der Begehung der kirchlichen Feiertagen im Schatten liegt – der Michaelistag am 29 September. Vielleicht ist er für unsere Gemeinden neu zu entdecken? Ein modernes Kirchenlied weist in unserem Gesangbuch auf diesen Tag der Engel hin: „Du sendest sie als Boten aus: dein Wort geht in die Welt hinaus. Groß ist in ihnen deine Kraft; dein Arm sind sie, der Wunder schafft.“