Wüste


Überwältigende Natur, atemberaubende Sonnenuntergänge, das sehe ich vor mir, wenn ich an die Wüstennächte in Marokko während einer Studienreise zurückdenke. Das Gefühl Teil der Schöpfung zu sein, im Einklang mit ihr zu leben, war für mich in der Wüste stärker als an irgendeinem anderen an Ort. Aber die Wüste ist nicht nur der Bereich, in dem unvergessliche Schönheit begegnet. Sie ist immer auch lebensbedrohend, deshalb sprechen wir von „verwüsten“, wenn etwas dem Erdboden gleich gemacht wird, wenn kein Stein mehr auf dem anderen bleibt.

Das hebräische Wort für Wüste,  מִדְבָּר, midbar, bezeichnet trockene oder halbtrockene Gebiete, die wegen Wassermangels für eine Bewirtschaftung ungeeignet sind. Der Begriff bezieht sich sowohl auf Wüsten- als auch auf Steppengebiete. Für  Ackerbau war der Bereich der Steppe ungeeignet, aber Weideflächen für die Herden der Halbnomaden waren vorhanden (Jer 9,9).

Die Wüste wird im Alten Testament vorwiegend negativ wahrgenommen, sie gehört zu den lebensbedrohenden, chaotischen Teilen der Welt. „Und die Erde war wüst und leer…“ (1. Mose 1,2) Extreme Temperaturen, der Mangel an Wasser und die Bedrohung durch den starken Wind, (vgl. Hos 13,15; Hi 1,19), lehren die Wüste zu meiden. Trostlosigkeit, gefangen in der Unmöglichkeit der Orientierung, Einsamkeit und Verlassenheit, Hunger und Durst, sind unheilsame Erfahrungen in ihr. Sie wird als Bild für das Ende benutzt (Jes 17,9; Jer 22,6; Ps 107,40). Immer wieder klingt der vernichtende Charakter der Wüste an ( 5. Mose 1,19) Untergangsdrohungen sind mit der Ankündigung verbunden, Kulturland oder Stadt zur Wüste (Jer 50,38f; Zef 2,13-15) werden zu lassen.

Neben gefährlichen Tieren, ist sie Aufenthaltsort für Menschen, die sich dem Zusammenleben mit anderen entziehen wollten: Sie war Zufluchtsort für Verfolgte, Flüchtlinge (1. Mose 16,7) und Lebensmüde (1. Kön 19,4), Aufenthaltsort von Ausgestoßenen, Ungläubigen (Ps 68,7) und Nomaden (1. Mose 3,1). Und manchmal ist die auch Schonraum vor Verfolgung, David floh vor Saul in die Wüste (1.Sam 23,14f) und Gott beschützte ihn dort, und gab ihn nicht in die Hände Sauls und seiner Männer.

 

Die Wüste ist der Ort, wohin man einmal im Jahr (3. Mose 16,1–28), am Jom Kippur, dem Tag der Sündenvergebung im Judentum, den Bock schickt. An diesem Tag werden vom Hohepriester die Sünden des Volkes Israel durch Handauflegen symbolisch auf einen Bock übertragen. Mit dem Vertreiben des Bocks in die Wüste werden die Sünden mitverjagt. „Jemanden in die Wüste schicken“, dies Sprichwort erinnert daran, dass wir dem, den wir schicken wollen, nichts Gutes wünschen. Die Wüste wird im Neuen Testament als wasserlose und  unbewohnte Gegend (Mt 24,26) beschrieben, es ist eine karge, nur als Weideplatz brauchbare Steppe (Lk 15,4), in ihr lauern Gefahren (2.Kor 11,26; Hebr 11,38), und leben Dämonen (Lk 8,28; Mt12,43).

 Johannes der Täufer tritt in der Wüste auf, um „den Weg des Herrn“ zu bereiten, sein Erscheinen knüpft an alttestamentliche Traditionen an. Im „Rufer in der Wüste“ (Jes 40) wird Johannes der Täufer gesehen, und die von ihm ausgehende Wegbereitung für Jesus besteht im Ruf zur Umkehr (Mt 14, 1-4). Wüste ist einmal eine geographische, also eine Ortsbeschreibung, als auch eine symbolische Größe, sie ist Ort der Gefahren, Versuchungen und Geheimnisse. Von Jesus wird berichtet, dass er vom Heiligen Geist in die Wüste (Mt 4, 1) geführt wird, damit er dort in Versuchung geführt wird. Und genau dort bietet eine Macht, Teufel genannt, ihm Möglichkeiten, die jedem Menschen geschmeichelt hätten, der seinen ihm innewohnenden Größenwahn nicht im Griff hat (Mt 4,8). Jesus widersteht allen Versuchungen, die Macht verlässt ihn und Engel gesellen sich ihm zu.

Im Neuen Testament erscheint die Wüste aber auch als Rückzugsbereich Jesu vor den Menschen, die ihn sehen und hören wollen (Mt 14, 13). Er und die Menschen, die ihm am nächsten waren (Jünger/innen), suchen dort Ruhe (Mk 6,31ff). Die Einsamkeit der Wüste lässt auf das Gebet (Mk 1,35; Lk 5,16) konzentrieren, eine intensive Begegnung mit Gott wird möglich.

Die meditative Erfahrung in einer Wüstenlandschaft wird heute von vielen gesucht. Mann kann sich selbst und Gott begegnen in der einzigartigen Atmosphäre der Wüste, kein Laut, kein Geräusch stört, Schönheit und Bedrohung ist gleichzeitig spürbar.


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